Sand im Getriebe

Warum Führung oft scheitert und wie der Führungsprozess hilft

Viele Führungskräfte sind von Modebegriffen wie „Agilität“, „New Work“, «Empowerment» oder «Purpose» umgeben. Trotz modernster Arbeitsmethoden, angesagter Tools und flacher Hierarchien, wird der Arbeitsalltag durch Burnout, hohe Fluktuation und unterschwelliger Zynismus geprägt. Was läuft falsch?

Der Führungsprozess 

Den eigenen Führungsrahmen erfassen und ausgestalten

Stellen wir uns eine Führungskraft im mittleren Kader eines Unternehmens vor, nennen wir sie Christine Effinger, kurz Ch. Ef. Ihr schwirrt der Kopf vor lauter Buzzwords wie »Agili­tät«, »Purpose«, »New Work« oder »digitale Transformation«. In ihrem Unternehmen ist höchste Flexibilität selbstverständ­lich, weil die Welt bekanntlich ein einziges VUCA ist. Die Hier­ archien wurden dank moderner Lehrbücher scheinbar flach­ gebügelt. Das Arbeitsumfeld ist »lean«. Ch. Ef. sichert projekt­bezogen das Gelingen des Entwicklungsrahmens als gewiefte Serum-Master - natürlich »situativ«. Aus dem unübersichtlichen Dschungel von Expertenmeinungen für Fach- und Führungskräfte und gelehrten Tipps zur Unternehmensführung hat man das Beste rausgeholt und eine ideale Arbeitswelt geschaffen. Aber unsere Führungskraft steht ratlos am Fenster schaut aus ihrem Büro auf die belebte Einkaufspassage unten und fragt sich: Warum zum Teufel fühlt es sich dann ständig so an, als wäre Sand im Getriebe?

 

Sand im Getriebe

Tatsächlich sind nämlich in Ch. Ef.s Abteilung gleich mehrere Mitarbeitende mit Burnout krankgeschrieben. Außerdem sorgt eine hohe Fluktuation dafür, dass ständig neue Fachkräfte mit den erforderlichen Kompetenzen erst mühsam gefunden und dann eingearbeitet werden müssen. Von der Hälfte ihrer Mitarbeitenden weiß die Abteilungsleiterin, dass sie eigentlich nur drauf warten, selbst Führungsfunktionen zu übernehmen, als wäre ihre Abteilung nur ein Warteraum für den nächsten Schritt. All das gibt der Führungsperson viel zu denken und zu tun.

Am schlimmsten fühlt sich aber an, was so schwer zu be­schreiben ist: hier eine schnippische Bemerkung bei der Kaffee­maschine, dort eine Andeutung während einer Teamsitzung, ein Tonfall, eine Geste, ein demonstrativer Seufzer, verdrehte Augen. Das Gift ist auch mit Freundlichkeit, besorgter Nachfrage, klärenden Gesprächen nicht rauszukriegen: Die Abteilung hat ein distanziertes Verhältnis zu ihren eigenen Aufgaben. Die zu erbringende Leistung ist auferlegte Pflicht statt Sinn der Sa- ehe. Durch ihre Abteilung summt, wie ein Tinnitus, der leise Grundton von tief eingenistetem Zynismus. Ch. Ef., immer noch am Fenster stehend, schließt die Augen und realisiert, dass sie auf eine unerwartet radikale Weise allein gelassen und im Grunde völlig überfordert ist. 

 

Führung als Prozess 

Mit ihrem Problem ist Ch. Ef. allerdings nicht allein. Bei unserer Tätigkeit in Organisationen stellen wir immer wieder fest, dass zwar über Führungsaspekte diskutiert wird und auch Schulun­gen stattfinden. Aber die einfachsten Grundlagen für die Füh­rungsarbeit sind nicht geklärt oder inexistent. Aufgrund dieser Erfahrung haben wir den Führungsprozess entwickelt. Er ist ein zentrales Werkzeug unserer umfassenden Toolbox, die wir unter dem Namen »SteeringSoulution®« anbieten. Aus kyber­netischer Sicht wird eine Organisation als ein dynamisches System verbundener Knotenpunkte und deren Interaktion bzw. Kommunikation betrachtet- nicht als Summe von Einzel­teilen. Führungsarbeit bedeutet vor allem die Regelung dieses Systems. In unserem Verständnis verlangt dies eine vernetzte Denkweise und die Fähigkeit, jederzeit die Auswirkungen von neuen Informationen, Aufträgen und Anliegen auf das Gesamt­system abschätzen und entsprechend (re-)agieren oder eben: steuern zu können. Der Führungsprozess bildet die Regler die­ser Steuerung anschaulich ab. 

 

Das Verfahren 

Der Grundgedanke unserer Methode ist immer derselbe: Wir schaffen eine solide Basis, auf der die Führungsperson prak­tisch und ganz konkret ihren eigenen Führungsrahmen erfasst und ausgestaltet - innerhalb der gegebenen Strukturen. Das bedeutet erst einmal nichts anderes, als die Aktivitäten der Füh­rungskraft zu sammeln, die dazu dienen, dass ihre Mitarbeiten­den einen Beitrag zur Wertschöpfung ihrer Organisation leisten können. Wenn wir diese Aktivitäten zu wiederkehrenden Abläu­fen zusammenfassen, sprechen wir von Handlungsketten. Na­türlich hat jede Führungskraft dabei unterschiedliche Aus­gangslagen und Anforderungen, je nach Branche und Unter­nehmen. 
Für Ch. Ef. notieren wir den Führungsprozess beispielswei­se so: 

Planung 

Jahresplanung: In der Jahresplanung finden sich alle relevan­ten Meilensteine sowie die sich wiederholenden Termine. Sie ist auf die Organisationsstruktur abgestimmt, und die Termine berücksichtigen so weit wie möglich die Bedürfnisse der jewei­ligen Handlungsketten. Die Jahresplanung dient der überge­ordneten Koordination und Abstimmung. 

Handlungsketten: Für wiederkehrende Aufgaben werden stan­dardisierte Abläufe definiert und dokumentiert. 

Backlog: Im Backlog werden Aufgaben, die nicht Teil einer Handlungskette bilden, also nicht wiederkehrend sind, syste­matisch gesammelt, sortiert, priorisiert, zugeteilt und über­wacht, damit sie fristgerecht abgeschlossen werden. 

Ressourcenplanung: Eine Übersicht über den Einsatz und die verfügbaren Ressourcen innerhalb eines Bereichs. Die Ressour­cen sind entsprechend den Prioritäten zugeteilt und die betrof­fenen Mitarbeitenden sind informiert. 

Die Liste von Planungsaufgaben kann beliebig ergänzt werden. Entscheidend ist es, die unterschiedlichen Arten von Planun­gen zu unterscheiden - und sie zugleich miteinander zu vernet­zen. Dabei können Tools hilfreich sein. Die Grundüberlegungen, was wie sortiert, geführt und wann angewendet wird, muss die Führungskraft jedoch für sich selbst anstellen und entspre­chende Entscheidungen fällen. 

Koordination 

Hier sensibilisieren wir Ch. Ef. dafür, dass sie als Führungskraft den Informationsfluss und die interne Abstimmung durchden­ken muss. Die Informationen dazu bezieht sie aus der Jahres­planung. Welche wiederkehrenden Informations- und Abstim­mungsgefäße gibt es? Welches Gefäß ist abhängig von welchen Informationen? Welche Rhythmen sind sinnvoll? Mit welchen Teilnehmenden? In welcher Form? 

Daraus definieren wir unterschiedliche Gefäße, z.B.:

  • regelmäßige Abteilungssitzungen nach der Geschäftslei- tungssitzung
  • regelmäßige Teamsitzungen nach den Abteilungssitzungen
  • regelmäßige 1:1-Sitzungen
  • jährlicher Strategie-Review-Workshop
  • regelmäßige Projektabstimmungssitzungen
  • andere Formen wie morgendliche Check-ins, Sprint-Mee­tings, Kunden-Review-Meetings

Entscheidend ist, dass Rhythmen definiert sind und die Abhän-gigkeiten des Informationsflusses erkannt werden. Dadurch kann der Koordinationsaufwand erheblich vermindert und Doppelspurigkeiten oder Unklarheiten, die zu Fehlleistungen führen, verhindert werden. 

Führung und Entwicklung 

Hier gilt es, die wiederkehrenden Führungsaufgaben aufzuneh­men, abgestimmt mit den Vorgaben aus der Organisation sowie den individuellen Ideen der Führungsperson, z.B.: 

  • Personalentwicklungsgespräche/-prozesse
  • Teamentwicklung
  • systematisches Review und Reflexion, vielleicht auch Strategiereviews in Abstimmung mit der übergeordneten Strate­gie auf Führungsebene 
  • Hilfsmittel zu Führung und Entwicklung wie ein Know-how­Management-System, Prozessmanagement
Spezifische Aufgaben der Führungsperson 

Je nach Branche und Aufgabe der Führungsperson sind hier komplett unterschiedliche Aufgaben erfasst, das kann von Füh­rungsaufgaben im Bereich Gesundheit, Sicherheit, Umwelt über regelmäßige Datenschutzupdates bis hin zu Repräsentati­on und Lobbyarbeit reichen. Wichtig ist, dass sie erfasst und kurz beschrieben werden.

 

Keine Zauberei 

Mit dem Führungsprozess liefern wir die Grundlage, all diese Themen vernetzt abzubilden und als Steuerinstrument zu im­plementieren. Der Führungsprozess ist also alles andere als Zauberei. Hier liegt der Segen (nicht der Teufel!) tatsächlich im Detail. Es handelt sich um ein Tool, das nicht einfach von Unter­nehmen zu Unternehmen kopierbar und stereotyp anwendbar ist, sondern es muss in jedem Fall gemeinsam mit der Füh­rungskraft hergeleitet werden. 

Sind danach alle Probleme von Ch. Ef. gelöst? Nein. Eine Or­ganisationsentwicklung, die alle Probleme von Ch. Ef. löst, ist ein Langstreckenlauf, kein Sprint. Sie ist eine Investition, braucht Ressourcen und muss von ganz oben mitgetragen sein. Der Führungsprozess kann aber auch isoliert, im Sinne einer Teil- und Sofortmaßnahme Wirkung zeigen - für Ch. Ef. und ihre Abteilung, aber auch als Kristallisationspunkt für eine Veränderung im gesamten Unternehmen. Zum Ende eines sau­ber hergeleiteten Führungsprozesses sind Redundanzen auf­gelöst, Fachverantwortungen delegiert, sind die Beschaffung und Weitergabe der für die Arbeit notwendigen Informationen geklärt, Missverständnisse behoben und Schuldfragen unnötig geworden. Vor allem aber, und das ist wohl beinahe das Wich­tigste: Es verpufft keine Energie mehr ins Ungefähre. Jede ein­zelne Handlung hat ihren Sinn, ihre Zeit, ihre Form und ihre Bestimmung. 

Die größte Wirkung der durch den Führungsprozess verbes­serten Organisation liegt paradoxerweise ausgerechnet im nicht organisierbaren Bereich. Durch die Strukturierung aller Themen, die sich organisieren lassen, wird wertvolle Zeit ge- spart. Freiräume öffnen sich für das, was unter dem ständigen Druck so oft den Overkill ausmacht: das Unerwartete, die Not-fälle, das Ungeplante. Plötzlich ist die Luft da für Innovation und Entwicklung. Die Führung leistet mehr und qualitativ bes-sere Arbeit bei besserer Befindlichkeit. Die Mitarbeitenden er­halten die Aufmerksamkeit und Unterstützung, die sie brau­chen. Schon nach kurzer Zeit wird sich zeigen, dass in Ch. Ef.s Abteilung ein neuer Wind einzieht. Christine Effinger steht nicht mehr ratlos am Fenster. Sie ist für alles bereit. Und sie weiß ge­nau, was ihre nächsten Schritte sind. ­

 

Oktober 2024
Text: Plinio Bachmann, Bettina Freihofer Estrada, Alex Freihofer
Bild: GettyImages

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Publikation

zfo Zeitschrift für Führung + Organisation Nr. 5 | 2024

Weitere Infos zum zfo:

zfo.de

Checkliste für Führungskräfte

Was von einer guten Führung erwartet wird, kann laufend mit neuen Schlagworten beschrieben und als innovative Technik gelehrt werden. Es scheint sich unter den Umwälzungen des Zeitgeistes ständig zu ver­ändern. Tatsächlich tradieren aber auch neue Schlagworte oft nur alte Missverständnisse. Die Prinzipien guter Führung bleiben dieselben. Schlechte Führung dient der Selbstdarstellung und der Festigung der eigenen Position, gute Führung dient den Mitarbeitenden. 
Unsere Checkliste für Führungskräfte: 

  • Hast du mehr Angst vor dem Scheitern als Mut zum Risiko?
  • Stellst du bei Fehlern die Schuldfrage, oder veränderst du das Vor­gehen? 
  • Freut es dich, dass Menschen verschieden sind, oder findest du das lästig? 
  • Haben deine Mitarbeitenden alle nötigen Informationen, um ihre Aufträge zu erfüllen? 
  • Hörst du wirklich zu, oder weißt du schon vorher, was dein Gegen­über sagt? 
  • Hast du alles delegiert, was du delegieren kannst? Auch Entschei­dungen? 
  • Weißt du bei jeder Information, für wen sie relevant ist, oder nimmst du zur Sicherheit alle ins Ce? 
  • Hast du den Überblick, oder fühlst du dich überfordert? 
  • Empfinden deine Mitarbeitenden dich als Unterstützung? 
  • Bist du bereit zu lernen, auch wenn du nicht darauf gefasst warst?