Scheitern – Preis des Erfolgs?

Wir entscheiden, ob wir Unkraut oder Blumen giessen

Umgang mit Scheitern – mehr als ein Satz im Unternehmensleitbild

Scheitern ist trendy. Im ETH Podcast vom 4. Februar 2022 zum Thema »Vorteile des Scheiterns« beschreibt Manu Kapur, Mitverfasser der ETH Studie »When Problem Solving Followed by Instruction Works: Evidence for Productive Failure« (2021), Scheitern wie folgt: »Scheitern wird immer mehr zum Mainstream, immer beliebter, es wird immer mehr darüber gesprochen. Es ist trendy, es ist angesagt.« Von global tätigen Unternehmen wie Amazon oder Apple ist bekannt, dass sie dank Misserfolgen erfolgreich wurden: »Misserfolg und Erfindung sind untrennbare Zwillinge«, so Amazons CEO Jeff Bezos. »Die großen Gewinne schaffen den Ausgleich für Tausende von gescheiterten Experimenten.« Start-up Gründer:innen und etablierte Unternehmer:innen zelebrieren ihr Scheitern in sogenannten FuckUp-Nights rund um den Globus. Dabei erzählen sie von Niederlagen, Kündigungen, finanziellen Herausforderungen und zeigen selbstkritisch sowie selbstironisch auf, wie sie mit diesen Rückschlägen umgegangen sind und gestärkt daraus auf die Spur des Erfolgs wechselten. Soweit, so gut.

Misserfolg als Karriereknick

Und wie sieht es im Alltag bei Unternehmen, Verwaltungen und NPOs mit der Fehlerkultur aus? Schaffen Organisationen den Trend des »Scheiterns« aktiv in ihre Kultur zu integrieren? Eine Studie der Personalberatung SThree (2017) zeigt auf, dass sich der Umgang mit Fehlern in der Praxis fernab von der euphorischen Stimmung einer »FuckUp-Night« abspielt. Auf die Frage, welche Konsequenzen Scheitern hat, gaben rund 45 % der Befragten an, dass sie nicht ohne negative Konsequenzen scheitern dürfen. Die meisten der Befragten gehen zudem davon aus, dass auf einen Misserfolg schädliche Reaktionen folgen: 49 % rechnen damit, dass sie die Anerkennung der Vorgesetzten und Kollegen verlieren würden. Bei 42 % wird Misserfolg negativ kommuniziert und 41 % sehen Scheitern als Hemmnis für die Karriere. 40 % glauben, bei Folgeprojekten nicht mehr berücksichtigt zu werden.

Interessant ist zudem die Diskrepanz in Bezug auf die Wahrnehmung vom Umgang mit Fehlern zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden:
Gemäß einer Umfrage der Unternehmensberatung EY (2018) gaben 66 % der befragten Führungskräfte an, in ihren Unternehmen würde eine offene Diskussionskultur zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten herrschen. Von den befragten Mitarbeitenden sehen das hingegen nur 42 % genauso. 18 % der befragten Mitarbeitenden gaben zudem an, dass Fehler in ihrem Unternehmen überhaupt nicht besprochen würden. Unabhängig von der Branche sehen 46 % der Führungskräfte, die in der gleichen Umfrage befragt wurden, die größte Gefahr einer mangelnden Fehlerkultur in zu wenig Innovationstätigkeit und damit in einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit. 42 % fürchten, dass sich vertuschte Fehler zu Skandalen ausweiten. 41 % nennen die Demotivation der Mitarbeitenden als eine der größten Bedrohungen und 40 % das Scheitern von Großprojekten. Bei den Angestellten steht mit 57 % die Demotivation der Mitarbeitenden an erster Stelle.


Scheitern, ohne zu lernen

Nur 29 % der Projekte, die in Unternehmen initiiert werden, sind gemäß Chaos Report von The Standish Group (2019) erfolgreich: 71 % scheitern, d. h., sie werden nie abgeschlossen, erreichen die gesetzten Ziele nicht oder werden abgebrochen. Der hohe Anteil an gescheiterten Projekten, der sich in den letzten zehn Jahren nicht verringerte, inspirierte die Organisationsentwickler:innen von mitPlan, die Ausgangslage bei Organisationen nach gescheiterten Projekten zu erfassen. Die empirische Dokumentation umfasst Erkenntnisse über die letzten acht Jahre auf Basis der Bestandsaufnahmen bei ausgewählten Projekten. Der Fokus liegt dabei auf Mandaten, die nach gescheiterten Transformations- und Entwicklungsprojekten in Auftrag gegeben wurden: Unter Berücksichtigung des systemtheoretisch-kybernetischen Ansatzes umfasste die Bestandsaufnahmeder ersten Phase sowohl die kulturelle, strategische, strukturelle, wirtschaftliche als auch technische Dimension. Dabei wurde eine ganzheitliche und interdisziplinäreSichtweise unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven verfolgt. Interessanterweise sind es immer wieder – unabhängig von Branche und Organisationsgröße – sehr ähnliche Situationen. Ein Auszug:

  • Gescheiterte, teils auch mehrfach gescheiterte Projekte verursachen Verunsicherung und Frustration
  • Unverhältnismäßige Eingriffe und Interventionen zur Projektrettung hinterlassen Spuren
  • Gereizte, müde Mitarbeitende fühlen sich nicht ernst genommen, hohe Absenzen
  • Stark hierarchisch geprägte Strukturen, formal und/oder informal
  • Mangelnder strategischer Rahmen sowie unklare Projektvorgaben
  • Mangelhafter Kommunikations- und Informationsfluss
  • Schuldfrage steht im Zentrum, nicht Ursache
  • Unklare Verantwortungen und Kompetenzen, stark personenorientierte Strukturen
  • Mangelnde Fehler- und Wissensdokumentation führen zu
  • Wiederholung gleicher Fehler
  • Fehlende Rückkoppelung und Reflexion verhindern organisationales Lernen
  • Auf sich fokussierte Bereiche/Abteilungen fehlt Wahrnehmung des Gesamtkontextes
  • Keine Konsequenzen für Sponsoren von gescheiterten Projekten, hingegen oft Austritt, Kündigung, Krankschreibung oder interne Versetzung der Projektleitung

Die viel diskutierte und oft auch in den Leitbildern und Führungsgrundsätzen verankerte Fehlerkultur sieht sich im operativen Alltag mit einer herausfordenden Realität konfrontiert: Wenn es hart auf hart kommt, wenn es um Macht und Verlust geht, geraten Leitbilder und Grundsätze oft in Vergessenheit. Es kommt zu Trennungen, Versetzungen und Krankschreibungen. Für die betroffenen Personen, die oft als Stellvertreter:innen für einen Misserfolg stehen, kann dieses Erlebnis sehr prägend sein, mit tiefgründigen Konsequenzen in Bezug auf Gesundheit, Beruf und Umfeld.

Fünf Disziplinen einer lernenden Organisation

Damit eine Fehlerkultur entstehen kann, braucht es Vertrauen und positive Erlebnisse im Umgang mit Fehlern. Es reicht nicht, Grundsätze zu manifestieren und darüber zu diskutieren. Scheitern sollte ein integraler Bestandteil des organisationalen Lernens werden. In seinem Buch »Die fünfte Disziplin – Kunst und Praxis der lernenden Organisation« führt Peter M. Senge in die entscheidenden Disziplinen ein, die aus seiner Sicht die Lernkultur in einer Organisation aufbauen und erhalten: Als erste Disziplin nennt der renommierte Organisationsentwickler die »Personal Mastery« – die Selbstführung und Persönlichkeitsentwicklung. Mit der zweiten Disziplin »Mentale Modelle« beschreibt Senge verbale Pauschalisierungen oder Symbole, die sich in einer Organisationskultur entwickelt haben. Die dritte Disziplin nimmt die Relevanz, »eine gemeinsame Vision zu entwickeln« auf, mit der das gemeinsame Zukunftsbild transferiert werden kann, an dem sich alle Organisationsmitglieder auf ihre Art und Weise beteiligen können. Die vierte Disziplin, »Team-Lernen«, ist entscheidend, da sie die Verbindung zwischen dem individuellen sowie dem organisationalen Lernen schafft. Keine der vier Disziplinen ist gemäß Peter M. Senge je zu Ende gelernt. Jede davon formt sich durch lebenslanges Lernen in unterschiedlichen Lebensabschnitten bei unterschiedlicher Priorität. Aus diesem Grundgedanken leitet sich die fünfte Disziplin »Systemdenken« ab. Entscheidend ist, dass durch bewusstes Trainieren einzelne Kompetenzen gezielt entwickelt werden können.

Schritt zum erfolgreichen Scheitern

Lernen zu Scheitern. Eine Kompetenz, die gelernt werden kann. Und ein Thema, mit dem sich sowohl die mitPlaner:innen als auch das Team bei der Geschäftsstelle der SGO auseinandersetzen. Einerseits aus persönlichem Interesse, anderseits aufgrund der Aktualität für Kunden und Vereinsmitglieder. Veränderungen beginnen bekanntlich bei sich selbst, so auch der Umgang mit Scheitern: Wie können wir uns fit fürs Scheitern machen? Wie können wir lernen, positiver mit dem Scheitern umzugehen? Im Experteninterview führt Elsbeth Horbaty, interkulturelle Coachin und Resilienz-Trainerin, in den Umgang mit Scheitern ein. Eigenverantwortung steht im Vordergrund.

SGO Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht das »Scheitern« in unserem Leben und in unserer Gesellschaft?
Horbaty Unsere Gesellschaft ist seit Jahrhunderten geprägt von immer mehr, immer höher, immer weiter und schneller. Scheitern oder Fehler machen wird als Sand in diesem Getriebe angesehen. Der Mensch lernt jedoch am einfachsten aus Fehlern – trial and error – und deshalb ist es wichtig, Fehler zu machen. Es gibt Schulen, in denen die Kinder ermuntert werden, mindestens drei Fehler pro Tag zu machen, diese bewusst
wahrzunehmen und sich zu überlegen, wie sie es das nächste Mal anders machen werden.

SGO Was geschieht mit uns und unserem Körper, wenn wir scheitern respektive das Gefühl haben, gescheitert zu sein?
Horbaty Auf körperlicher und biologischer Ebene funktionieren wir immer noch sehr ähnlich, wie die Menschen, die in Zeiten des Pfahlbaus gelebt hatten. Wir reagieren heute mit einer ähnlichen Reaktion auf das Schreien eines Chefs, wie damals als uns Löwen oder Bären angegriffen haben: mit Flucht, Kampf oder Erstarren. So kann unsere Angst vor dem Scheitern körperliche Stresszustände wie Herzklopfen, Kurzatmigkeit oder
Hormonveränderungen auslösen. Das kann zwar kurzfristig zu mehr Kraft und Ausdauer führen, wenn der Stresspegel jedoch nicht mehr sinkt, auch zu Symptomen wie Schwierigkeiten beim Einschlafen oder Durchschlafen, Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Emotionen und extreme Wachsamkeit. Hält diese Angst oder Stress längerfristig an, kann das zu ernsthaften Krankheiten und zu Problemen in unseren Firmen und unserer Gesellschaft führen. Ein Beispiel erleben wir jetzt mit dem seit über zwei Jahren anhaltenden globalen Stress in Zeiten von Corona.

SGO Welches ist die biologische Erklärung zu diesem Verhalten?
Horbaty Ohne groß in Details zu gehen: Wir wissen von der Hirnforschung, dass wir im limbischen System in unserem Gehirn einen Bereich haben, der sich Amygdala nennt. Sie ist zuständig, um dem Körper Gefahren oder Sicherheit zu signalisieren. Und ganz wichtig: Diese Gefahr kann wirklich sein oder diese Gefahr kann auch nur gedanklich wahrgenommen werden. Wenn wir also gestresst sind und eine mögliche Gefahr
wahrnehmen, weil wir scheitern könnten, so ist die Amygdala immer auf Rot und unser autonomes Nervensystem im sogenannten sympathischen Zustand. Dieser löst in unserem Körper ähnliche Reaktionen aus wie eine kalte Dusche: kurzes Atmen, Schultern hochziehen, Blut in die Muskeln mit den obenbeschriebenen Symptomen.

SGO Sind wir unserem Nervensystem machtlos ausgeliefert?
Horbaty Aufgrund meiner Erfahrungen als Resilienz-Trainerin bin ich davon überzeugt, dass wir unser autonomes Nervensystem beruhigen können, wenn wir unserem Körper Sicherheit vermitteln. Das bringt uns wieder in den sogenannten parasympathischen Bereich, den wir mit einem warmen Bad verglei-chen können: Die Muskeln entspannen sich, der Atem geht ruhiger, die Verdauung funktioniert wieder und wir können wieder schlafen.

SGO Unserem Körper Sicherheit vermitteln … wie schaffen wir das in einem Stresszustand?
Horbaty Eine sehr einfache und sichere Art ist es, sich in den gegenwärtigen Moment zu bringen, da unsere Ängste meistens in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen (z. B. »Ich habe Angst an Corona zu erkranken«, »Ich fühle mich noch immer wegen des Blicks von meinem Chef unsicher«). Hier eine kurze Anleitung:

  • Informationen übermitteln, die erklären, weshalb ich mich unsicher fühle: »Diese Situation ist verrückt, nicht ich.«
  • Sich vor Augen führen, dass Stresssymptome als biologische Reaktion in unserem Körper reagieren.
  • Bewusst die fünf Sinne im jetzigen Moment wahrnehmen: Was sehe ich, wo ich bin? Wonach riecht es? Wie fühlt sich der Wind auf meiner Haut an? Was höre ich, welchen Geschmack habe in meinem Mund?
  • Bewusstsein schaffen und Benennen von Emotionen und Gefühlen
  • Körperwahrnehmung dieser Emotionen

SGO Was nach einem systematischen Vorgehen klingt, ist im Berufsalltag oft schwierig umsetzbar: Denn steht die Amygdala auf Rot, fehlt die Muße, seine eigene Wahrnehmung zu aktivieren …
Horbaty Ja, das ist korrekt. Diese Wahrnehmung fällt vielen nicht leicht. Körperliche Übungen, die jederzeit gemacht werden können, um in den jetzigen Moment zu kommen, sind da einfacher praktizierbar. Nachfolgend ein Beispiel einer erprobter und effektiver Übung:

  • Stellen Sie Ihre Füße auf den Boden.
  • Fühlen Sie, ob die Füße kalt oder warm sind.
  • Fühlen Sie die Socken, Steine oder den Teppich auf dem Boden?

SGO Heißt das, wir sind grundsätzlich von Natur aus resilient und müssen uns nur das Wissen aneignen, welche Übungen wir in kritischen Situationen machen sollten?
Horbaty Wie bei allem gilt auch hier: Übung macht den Meister. Neben den körperlichen Übungen kann jeder Mensch seine eigenen Ressourcen systematisch aufbauen und stärken. Wie ein großes Gebäude, dass so gebaut werden kann, dass es sich im Erdbebengebiet in die Wogen legt, biegt und wieder aufrichtet – genau so können wir uns für schwierige Momente vorbereiten. Aus meiner Erfahrung habe ich folgende Ressourcen als besonders wirkungsvoll wahrgenommen:

Externe Ressourcen

  • Meine sozialen Kontakte: Familie, Freunde, Umfeld
  • Zugehörigkeit zur Gemeinschaft
  • Kontakt mit der Natur
  • Selbstfürsorge, wohltuende körperliche Übungen, Sport
  • Gesunde Ernährung

Interne Ressourcen

  • Religion, Spiritualität
  • Erinnerungen an glückliche Momente
  • Meine Geschichte der Resilienz, wie habe ich überlebt, wie hat meine Familie überlebt

Kulturelle Ressourcen

  • Musik hören oder musizieren, singen
  • Aufschreiben, was mit mir passiert
  • Tagebuch führen, Poesie, Kunst, Humor

Welche Ressourcen in welcher Form unterstützend sind, ist von Mensch zu Mensch verschieden: Hier lohnt es sich, herauszufinden, welche Ressourcen für einen selbst am wirkungsvollsten sind.

SGO Was können Organisationen für ihre Mitarbeitenden tun, damit eine Kultur des »Scheiterns« ein aktiver Teil der gemeinsamen Entwicklung wird?
Horbaty Diese Körperübungen und Ressourcen können dazu beitragen, dass wir uns etwas sicherer fühlen und die Angst und der Stress beruhigt werden. Wichtig ist jedoch – wie eingangs beschrieben – ein Sinneswandel. Wir können viel erreichen, wenn wir bereits im Voraus ein vermeintliches Scheitern als Lesson learned einstufen. Vor einer Sitzung, einem Vorstellungsgespräch, einem Mitarbeitergespräch überlegen, was heißt es eigentlich zu scheitern? Oder danach sich zu überlegen, welche Fehler habe ich oder wir gemacht. Dieser Prozess kann systematisch von Führungskräften und in der Personalentwicklung gefördert werden. Teams können sich beispielsweise gemeinsam in der Teamsitzung überlegen: Was lief gut? Was lief weniger gut? Was können wir aus unseren Fehlern lernen? Laut dem Psychiater und Holocaust-Überlebenden Viktor Frankl haben wir immer die Freiheit, welche Haltung wir in jeder noch so schwierigen Situation einnehmen wollen. Oder noch einfacher ausgedrückt: Ich kann entscheiden, ob ich den Blumen oder dem Unkraut Wasser gebe.

SGO Vielen Dank für das inspirierende Gespräch.

 

April 2022
Autorin: Bettina Freihofer

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Publikation

zfo Zeitschrift für Führung + Organisation Nr. 4 | 2022

Weitere Infos zum zfo:

Elsbeth Horbaty

begleitet seit über 40 Jahren Fachkräfte in der Entwicklungszusammenarbeit und Menschen in extrem schwierigen Situationen nach Naturkatastrophen und im Krieg. Sie ist Trauma-Expertin, ausgebildet am Somatic Experiencing Trauma Institute. Als Krisen- und Kriegsjournalistin sowie aufgrund ihrer Einsätze in Konfliktregionen war der Umgang mit traumatischen Erlebnissen für sie stets eine Herausforderung. Sie lebte in Nicaragua, Mexiko, Pakistan sowie in der Schweiz. Seit 2013 arbeitet sie selbstständig als interkulturelle Coachin und Resilienz-Trainerin
für NGOs, Verwaltungen und Unternehmen. www.horbaty.ch